Lettland braucht unbedingt einen Punkt, um zum ersten Mal seit fünf Jahren in den Viertelfinal vorzurücken. Für die Schweizer hat die Partie hingegen keinerlei Bedeutung. Sie stehen bereits vor dem letzten Spiel als Gruppensieger fest und Deutschland wird der Gegner sein. Also ist es ein «halber Viertelfinal»: Für die einen (die Letten) «alles oder nichts» und für die anderen (die Schweizer) «um nichts».
Ohne Nico Hischier, ohne Nino Niederreiter, ohne Denis Malgin, ohne Dean Kukan, ohne Leonardo Genoni (Ersatz) und Robert Mayer (auf der Tribüne): Einen solchen «Schonwaschgang» im letzten Gruppenspiel können sich nur die Grossen leisten.
Die Niederlage ärgert die Spieler. Sie stapfen nach der Partie doch recht hässig Richtung Kabine. Auskunft geben sie den wartenden Schreibenden und Sendenden trotzdem. Brisante Aussagen macht keiner.
Patrick Fischer ist trotz allem mit dem Auftritt seiner Mannschaft zufrieden. Er stellt klar, dass man die Partie sicher nicht verschenkt oder gar absichtlich verloren habe. «Aber es ist schwierig, sich auf solche Spiele einzustellen.»
Die Schweizer sind in einem wilden Spektakel hin und wieder ein wenig nachlässig und kassieren zu viele Strafen und den Siegestreffer der Letten in der Verlängerung in Unterzahl. Sie dominieren einen leidenschaftlichen, schnellen, mutigen Gegner (32:28 Torschüsse). Noch vor 15 Jahren wäre unser WM-Team hoch konzentriert und bis auf die Fingerspitzen motiviert nicht zu einer solchen Leistung fähig gewesen.
Erkenntnisse im Hinblick auf den Viertelfinal vom Donnerstag lassen sich aus dieser Partie keine gewinnen. Andres Ambühl – der «ewige Spieler» buchte seinen 4. Treffer bei diesem Turnier – mag aus dem Spiel keine Schlussfolgerungen ziehen und bringt es auf den Punkt:
So einfach. So klar. So wahr. Die Niederlage gegen Lettland ist kein Grund zur Sorge. Unsere WM-Geschichte von 2023 muss nicht neu geschrieben werden.
Spiele ohne Bedeutung wie gegen Lettland sind bei der WM die Möglichkeit, den dritten Torhüter zu testen. Wer weiss, vielleicht entdecken wir ja so den nächsten Leonardo Genoni.
Seit Leonardo Genoni 2017 die Nummer 1 der Nationalmannschaft geworden ist, konnten wir bei diesen Versuchen keinen neuen WM-Helden entdecken. Mit einer Ausnahme, auf die wir noch zurückkommen werden.
Sandro Zurkirchen, Niklas Schlegel, Gilles Senn, Melvin Nyffeler oder Sandro Aeschlimann – Titanen der Liga – sind auf WM-Niveau Hinterbänkler geblieben.
Das Problem: Den dritten Goalie beissen bei der WM die Hunde. Sie kommen dann zum Zuge, wenn Niederlagen keine oder fast keine Rolle spielen. Wenn alle wissen, dass es nicht soooo wichtig ist, wird es für den Torhüter schwierig. Es sind die undankbarsten Partien überhaupt.
Gegen Lettland durfte nun Joren van Pottelberghe (25) die Rolle des unglücklichen dritten Mannes übernehmen. Sein erster WM-Einsatz. Die Partie geht verloren und seine Fangquote (85,71 Prozent) ist miserabel. Und doch ist er der aussichtsreichste Kandidat für die Nachfolge von Leonardo Genoni aus der heimischen Liga. Die NHL-Entdeckung Akira Schmid (23) war noch nie bei der WM und es wird jedes Jahr fraglich sein, ob er zur Verfügung steht.
Noch ist Leonardo Genoni (35) da. Und zum ersten Mal seit fünf Jahren haben die Schweizer in Riga überraschend einen zweiten Torhüter für grosse, internationale Spiele: Robert Mayer (33).
Er ist der einzige dritte Mann der «Ära Genoni», den die Hunde nicht dauerhaft gebissen haben. Noch 2019 war er bei seiner dritten WM-Teilnahme die chancenlose Nummer 3.
Nach dem missglückten HCD-Abenteuer schien seine internationale Karriere im Frühjahr 2020 sowieso beendet.
Und nun sorgt er für Denkarbeit bei Patrick Fischer. Servettes Meistergoalie spielt in Riga sein bestes Hockey. Das Hockey, das von ihm aufgrund seines Talentes seit gut zehn Jahren erwartet worden ist. Er hat dreimal den Sieg festgehalten: gegen Norwegen ohne Gegentreffer. Dann aber auch gegen die Slowaken und vor allem im bisher intensivsten und besten Spiel in Riga gegen Tschechien.
Am Ende dieser WM, wenn sich der Weihrauch des Ruhmes oder der Pulverdampf der Polemik verzogen haben, wenn alles diskutiert und analysiert ist, wird der Torhüter das Thema bleiben.
Ob die Schweizer gegen Deutschland den Viertelfinal gewinnen, hängt auch davon ab, ob Patrick Fischer den richtigen Mann ins Tor stellt.
Seit der Silber-WM von 2018 bis zum WM-Start 2023 hat es keine Torhüter-Diskussion gegeben. Leonardo Genoni, der Silber-Held von 2018, ist der Mann der entscheidenden Spiele. Punkt. Und nun auf einmal eine ketzerische Frage: Ist er das immer noch?
Seit 2018 hat die Schweiz mit Leonardo Genoni alle Viertelfinals bei Titelturnieren verloren. Bei der WM 2019, 2021 und 2022 und beim Olympischen Turnier von 2022. Nein, nicht wegen der Torhüterleistung. Aber die Schweizer haben eben auch nicht dank Leonardo Genoni diese Viertelfinals überstanden.
Setzt Patrick Fischer auf Leonardo Genoni und wir scheitern im Viertelfinal, dann wird sich die Diskussion nicht um verpasste Torchancen, ungenügendes Powerplay oder zu offensive oder zu defensive Spielweise drehen. Sondern um die Wahl des Goalies. Kritiker werden sagen, mit dem aggressiveren, wehrhafteren Nonkonformisten Robert Mayer (er mahnt ein wenig an den legendären NHL-Star Ron Hextall) hätten wir die Deutschen gepackt.
Gibt der Nationaltrainer Robert Mayer den Vorzug und wir verlieren gegen Deutschland, dann heisst es: Wie kann einer, der bei Verstand ist, auf den grossen Leonardo Genoni verzichten? Der ruhige, smarte, eher konventionelle Stilist hätte die Deutschen zur Verzweiflung gebracht.
Wen er morgen gegen Deutschland einsetzen wird, lässt Patrick Fischer offen. Zum ersten Mal seit der WM 2018 ist zumindest theoretisch nicht mehr in Stein gemeisselt, dass Leonardo Genoni für den Viertelfinal gesetzt ist.
Die Erfahrung lehrt, dass Coaches bei solch heiklen Fragen das Risiko meiden und auf eine konservative Lösung setzen.
Die heisst in diesem Fall: Vorteil Leonardo Genoni.
Einem Goali der während der ganzen Saison genau 11 Spiele auf höchsten Niveau (National League oder Nationalmannschaft) bestritten hat, fehlt einfach der Rhythmus. Dementsprechend strahlte er gestern auch diese fehlende Spielpraxis aus, indem er sehr viele Abpraller zuliess.
Er hat bestimmt viel Talent, aber in der jetzigen Situation, ist er definitiv nicht der richtige Mann in der Nati und wird es, wohl auch nicht sein, wenn in Biel Säteri weiterhin soviel spielt.